Ein persönliches Album verleitet auch zu einer persönlichen Review. Gerade wenn dabei zwei prägende Aspekte aufeinander treffen: Die Band, die mich mein ganzes Leben lang begleitet, und der Tod. Musikalisch sind Die Toten Hosen mit „Laune der Natur“ breiter aufgestellt als je zuvor, verlieren dabei aber weder an Wiedererkennungswert noch an Faszination.

Mit einem Urknall katapultieren sich Die Toten Hosen zu Beginn von Laune der Natur direkt zurück an die Front – als seien sie nie weg gewesen. Vom am Schlagzeug ist nicht nur beim Opener dominanter als je zuvor, das Gitarrenriff dazwischen gleich ein Alleinstellungsmerkmal. Der Song: Ein Statement.

2017 gucken die Düsseldorfer immer wieder zurück. Laune der Natur ist keine politische Auseinandersetzung, sondern ein persönlicher Rückblick auf mittlerweile 35 Jahre Bandgeschichte. Alles mit nach Hause ist dabei ein Tribut an all die schönen und schmerzvollen Erinnerungen, die man im Laufe eines Lebens so sammelt und schätzt: „Ich nehm‘ das alles mit nach Hause / Ich gebe nichts mehr davon her / Das ist alles meine Beute“.

Kein Interview mit Campino zum neuen Longplayer (und ich habe viele davon gelesen) kommt ohne die Frage aus, ob Wannsee an Westerland von die ärzte angelehnt sei. Ich habe allerdings keinen Schimmer, wo da die Ähnlichkeiten liegen sollen. Der Song ist eine feine Reggae-Nummer mit eingängigem Chor. „Wannsee, Wannsee, wann seh‘ ich dich endlich wieder“ ist zugegebenermaßen kein glorreiches Wortspiel, hat aber nicht nur Schunkel- sondern auch Ohrwurm-Potenzial.
Nein, seien wir ehrlich: Wannsee frisst sich in die Gehörgänge und lässt sich da höchstens von Urknall, Laune der Natur, Energie, Die Schöne und das Biest, Wie viele Jahre (Hasta La Muerte) und Unter den Wolken ablösen. Ihr versteht, worauf ich hinaus will?

Wo wir gerade dabei sind: Denn inmitten des Albums wirkt Unter den Wolken nur noch halb so weichgespült. Ja, auch ich kleines Fangirl hatte mittelschwere, panische Schnappatmung als ich die Singleauskopplung das erste Mal gehört habe. Zu weich. Zu Tage wie diese. Zu Reinhard Mey. Wieso wurde nicht die grandiose B-Seite Gegenwind der Zeit zur Single gemacht? Wie aber das ganze Album braucht Unter den Wolken mehrere Durchläufe bis es klick macht.

Sich lautstark zum Thema Musikindustrie und Politik zu äußern, ist immer eine Herausforderung. Heißt man allerdings Campino, wird das Ganze noch kniffliger. Umso überraschender ist daher die musikalische Antwort auf alle Kritiker. Pop & Politik ist der einzig politisch angehauchte Track, mit dem Die Toten Hosen sich zur Abwechslung mal selbst auf die Schippe nehmen. „An Tagen wie diesen bleibt ihr besser mal zuhaus‘“ ist die Message, die den Düsseldorfern in letzter Zeit von den Medien oft entgegengetragen wurde.
Den selbstironischen Ton behalten die Fünf auch im folgenden Track Laune der Natur bei. Mit den typischen Hosen-Chören ist der Song perfekt, um ihn live mitzugrölen.

Der Folgetrack Energie ist dann so simpel wie genial: Den typischen DTH-Groove gepaart mit einfachen Bap Bap Bap Baaa-Chören ergeben in der Summe eine Gute-Laune-Nummer und den obligatorischen Ohrwurm. Ganz ehrlich? Ich liebe es!

Natürlich kommt kein Die Toten Hosen-Album ohne Liebeslieder aus – ohne schmerzliche Liebeslieder natürlich. „Kein Happy End, kein Hollywood“ so heißt es in Alles passiert ganz typisch für die Düsseldorfer. In leisen Tönen hat man sich hier einfach auseinander gelebt, trennt sich und schaut noch einmal zurück.
Im Gegensatz zum gleichnamigen Film gibt es in Die Schöne und das Biest auf diesem Longplayer kein Happy End. Dafür kommt der Song im völlig ungewohnten Country-Style daher – kein Wunder also, dass auch in dieser Liebesgeschichte wieder die Waffen gezückt werden.

Dann kippt das Album, verliert die Leichtigkeit der Reflektion und wird melancholisch. Wehmütig. Traurig. Wem Nur zu Besuch Tränen in die Augen getrieben hat, der wird auch bei Eine Handvoll Erde zu schlucken haben. Wie ein Epilog zu seinem Vorgänger führt das Lied durch eine Beerdigung. Die Beerdigung von Manager Jochen Hülder, verstorben Anfang 2015 an Krebs.
Auch hier schafft es Campino erneut, diese eine ganz bestimmte Enge in der Brust zu zeichnen. Diejenige, die man nur nachvollziehen kann, wenn man selbst mal mit einer Handvoll Erde auf einem Friedhof stand. Mit einfachen Bildern und dezenter Gitarre im Hintergrund ist man plötzlich näher dran als einem lieb ist. Als mir lieb ist. Lassen wir doch einmal das unpersönliche Review-Gequassel kurz beiseite: Ich bin viel zu oft viel zu weit vorne über Friedhöfe gelaufen. Mich wirft dieser Song daher sofort in Erinnerungen, die ich gerade nach dem ersten Hören nicht so einfach runterschlucken konnte. Statt aber als ein einfaches Depri-Lied á la „Mimimi, der Tod ist doof“, trägt es den Moment des Abschieds so viel Hoffnung und Zuneigung, dass sich diese Stück nicht nach Abschied anfühlt, sondern den Blick auf einen Neuanfang richtet. Kurz: Großartige Nummer ohne grausige Trauerplattitüden.

Der zweite einschneidende Tod, den die Band in den letzten Jahren erleben musste, ist der des ehemaligen Schlagzeuger Wölli. Diesen verarbeitet die Band in Kein Grund zur Traurigkeit. Ein alter Song von Wölli am Gesang wurde dafür verwendet, die Musik neu arrangiert und Teile mit Campinos Gesang unterlegt. Auch hier ist die musikalische Hommage an den Verstorbenen pietätvoll und traurig schön gelungen. Den bitteren Nachgeschmack mit diesem letzten Song muss man sich aber nicht bei jedem Durchlauf geben.

Diese beiden Lieder zusammen bilden dabei fast einen Rahmen innerhalb des Albumkonstrukts. Denn auch die vier Tracks dazwischen schleppen das Motiv der Endlichkeit mit sich, obwohl die Koffer dafür nicht unterschiedlicher aussehen könnten:
Wie viele Jahre (Hasta La Muerte) ist ein Opel-Gang Epos, verpackt im Hymnen-Sound der Toten Hosen. Anhand von Breitis Geburtstagen der letzten Jahrzehnte, geht man ein Stück zusammen mit den Düsseldorfern und fragt sich selbst am Ende: „Wie viele Jahre kann es so weitergehen?“ Eine Frage, auf die ich als Fan eigentlich gar keine Antwort möchte. Denn das Ende im Blick wird sogar der ICE nach Düsseldorf in Laune der Natur plötzlich im Sarg zurückgelegt – klingt dafür aber fetzig freundlich.
Gleich darauf schaudert es einen im Geisterhaus (wieso hat hier niemand nach Verbindungen zu die ärzte gefragt?) mit klirrender Akustik-Gitarre. Und Lass Los? Der ist ausnahmsweise nur eine Trennung. Ein Abschied für immer, ja. Aber kein unwiderruflicher.

Die Toten Hosen – Laune der Natur | Die Fakten

Name: Laune der Natur
Genre: Rock
Länge: 51 Minuten
Release: 05. Mai 2017
Label: JKP

Meine Top 5

  1. Urknall
  2. Wannsee
  3. Energie
  4. Alles Passiert
  5. Eine Handvoll Erde

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Review overview

Gesamt:9

Summary

9Musikalisch sind Die Toten Hosen mit „Laune der Natur“ breiter aufgestellt als je zuvor, verlieren dabei aber weder an Wiedererkennungswert noch an Faszination.