Frohes neues Jahr!
(Ja, wir haben Ende Februar. Ich weiß.)

Mit der ersten Review des Jahres starten wir direkt auf hohem Niveau: Massendefekt mit ihrem neunten Studioalbum Lass die Hunde warten (VÖ 26. Januar 2024).

Mit Lass die Hunde warten begeben sich Massendefekt back to the roots. Der Sound kommt wieder rougher daher, als wir ihn noch vom Vorgänger Zurück ins Licht (2020). in den Ohren haben. Weniger glatt, mehr Proberaum und alles, was Massendefekt zu Massendefekt machen: Harte Gitarrenriffs, kratzige Vocals, eingängige Hooks – alles, was es für guten Punk Rock braucht.

Song by Song Review

Doch werfen wir mal einen genauen Blick ins Album: Der Opener Zugvögel gibt gleich zu Beginn die Richtung der neuen Platte an. Fette Riffs, dicke Produktion und dem ganz eigenen Massendefekt-Stil. Back to the roots und weniger Experimente. Das sorgt bei Massendefekt-Fans (Hi! It’s me!) für Schnappatmung beim ersten Ton.

Nicht Ok nimmt das Tempo wieder etwas raus und gibt ein bisschen Cheesiness hinzu. Ein bisschen ist schließlich okay, denn diese Song gewordene Umarmung braucht das, wenn die Welt mal wieder „Nicht okay“ (aka. richtig scheiße) ist.

Tag am Meer ist ein Ohrwurm-Garant für jede Person, die ihre Tage am Meer mehr braucht als das Mercedes Formel 1 Team ein neues Auto (Formel 1-Fan anyone? Sorry, bin auf Entzug – weiter geht’s):

„Ich kipp Milch in meinen Toaster
‚n Schuss Kaffee auf den Toast“

Und spätestens hier wissen wir: Wir sind nicht nur urlaubsreif, sondern es muss der Blick aufs Meer sein. Ganz abgesehen davon, dass ich nichts auf dem Album so fühle wie die Zeilen

„Ich muss weg von hier, bevor ich mich verlier
Der letzte Tag am Meer ist schon zu lange her“

ist die Melodie des Songs so fies eingängig, dass selbst der Typ „Ich geh‘ lieber in die Berge“ sich den nächsten Ozean sucht.

So, liebe Sommerregen-Fans. Jetzt wird es ungemütlich für uns alle. Ich mag „Sommerregen“ nicht. Der Synth ist ganz spannend, aber der Rest holpert vor sich hin. In den Strophen verhalten Text und Musik sich zueinander wie zwei Puzzleteile, die nicht richtig ineinander passen wollen, während der Refrain aalglatt damit bricht. Das mag ein gewolltes Stilmittel sein, funktioniert für mich aber nicht. Dazu die Geschichte vom gescholtenen Mädchen, dass die Freiheit beim Tanzen im Sommerregen spürt. Die Story ist auserzählt. Für mich funktioniert es höchstens noch, wenn sie im Nebel tanzt.

Nach diesem Lowlight folgt aber wieder musikalischer Sonnenschein, der völlig unterschätzt wird. Insomnia ist nach Indie Hölle (Pazifik) der Beweis, dass Massendefekt ein bisschen Indie ganz gut steht. Mit dem Tempowechsel zwischen Indie-geprägten Strophen, satten Massendefekt-Riffs in Hook und Refrain und einem Outro mit einem seltenen Drum-Solo verdient dieser Song wirklich mehr Aufmerksamkeit.

Während die letzten Drums noch auslaufen, landen wir bei einem absoluten No-Brainer. Disko funktioniert auf Platte und ist live – völlig zurecht! – ein exzessiver Abriss. Hört euch das Ding einfach an! Mehr brauche ich dazu nicht zu sagen, Disko spricht, tanzt und feiert sich selbst am besten:

Dürfte ich mir hier noch etwas wünschen, wären es Farin Urlaub’sche Hintergrundchöre im Refrain (bei Nicht ok und Leuchtfeuer geht’s ja auch). Aber das ist Meckern auf wirklich hohem Niveau.

 Pferdekotzen ist der musikalisch lockerleichte Rückblick auf eine Freundschaft, die sich auseinander gelebt hat. Ob man sich je wieder versteht? „Wer weiß, man hat schon Pferde kotzen sehen“ geht ins Ohr und macht live wirklich Laune. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

Gemein ist der Blick auf die Spotify-Zahlen ab diesem Teil des Albums. Ich hoffe, die Plattenkäufer*innen wissen die folgenden Songs mehr zu schätzen. Das liegt nahe, denn gerade die beiden folgenden Songs sind keine klassischen Banger in geshuffelten Playlists von typischen Spotify-Hörer*innen. Es sind Album-Titel, die sich Zeit nehmen – fast vier Minuten pro Stück.

Weil Du weinst wird daher live vermutlich nicht die Halle zum Beben bringen, schön ausproduziert auf Platte nimmt es sich aber Raum und Zeit eine Geschichte zu erzählen – textlich aber auch mit einem für Massendefekt ausgedehnten musikalischen Teil.

Letzteres reizen die Jungs im folgenden Intro fast schon zu viel aus. Der langsame Start entwickelt sich über die 3:55 Minuten aber zu einem Massendefekt’schen Leuchtfeuer am Ende. Chöre, Gitarre, Vocals – wer wissen will, was ich hier immer als „typisch“ für die Band beschreibe, hört sich bitte den Refrain an. Mehr MD passt nicht in einen Refrain.

Nahtlos daran knüpft Halt die Welt an an. Es tut mir fast schon weh, dass der Song, der die für das Album namensgebende Zeile enthält und der so weit nach hinten gerutscht ist. Galopprhythmus kriegt mich per se immer, Mitgröhl-kompatible Backings in der Hook und relatable Lyrics und Du siehst mich unter meinen Kopfhörern wunschlos glücklich.

Übrigens: Wenn Halt die Welt an auf der kommenden Tour nicht auf der Setlist landet, werde ich fuchsig (Tour läuft schon, aber ich habe mich noch mit keiner Setlist gespoilert. Sollte der Song nicht drauf sein, gebe ich hiermit den dezenten Hinweis, dass ich in Köln sein werde und bis dahin ja noch ein paar Tage zum Üben sind).

Entschuldigt die Exkursion, back to topic, denn wir sind fast am Ende:

Selten so einen fluffigen Beat wie in Solitär gehört, während es eigentlich um… Idioten geht. Brechen wir es mal so herunter. Massendefekt beweisen hier, dass „tanzbarer Sound bei ernsten Lyrics“ eine ihrer Paradedisziplinen ist.

Abgerundet wird Lass die Hunde warten mit Teufel. Einem gelungenen Rausschmeißer der uns durch stakkatohaften Rhythmus in Musik und Gesang mit auf einen diebischen Tanz mit dem Teufel um unsere Seele aus dem Album entlässt.

Lass die Hunde warten ist Massendefekt – und damit wirklich guter deutschsprachiger Punk Rock – in (fast vollendeter) Perfektion. Die erste Hälfte brilliert mit den großen eigenständigen Highlights, die zweite Hälfte hingegen mit Perlen, wegen derer es das Gesamtkonzept Album auch in Streaming-Zeiten noch braucht.

Das Album bekommt ihr hier: https://www.massendefekt.de/shop

Lass die Hunde warten Tour 2024

Fr, 16.02.24: Frankfurt / Main, Batschkapp
Sa, 17.02.24: Stuttgart, Im Wizemann – Club
Sa, 24.02.24: Köln, Kantine
Fr, 01.03.24: Nürnberg, Hirsch
Sa, 02.03.24: Dresden, Chemiefabrik
Fr, 15.03.24: Bremen, Kulturzentrum Schlachthof
Sa, 16.03.24: Münster, Sputnikhalle Münster
Fr, 03.05.24: Hamburg, Markthalle – Großer Saal
Sa, 04.05.24: Berlin, SO36
Fr, 10.05.24: Hannover, MusikZentrum
Sa, 11.05.24: Leipzig, Conne Island
Sa, 21.12.24: Düsseldorf – Stahlwerk (Heimspiel)

Tickets gibt es hier.

Review overview

Gesamt:9

Summary

9Lass die Hunde warten ist Massendefekt – und damit wirklich guter deutschsprachiger Punk Rock – in (fast vollendeter) Perfektion. Die erste Hälfte brilliert mit den großen eigenständigen Highlights, die zweite Hälfte hingegen mit Perlen, wegen derer es das Gesamtkonzept Album auch in Streaming-Zeiten noch braucht.