Ereignisreicher hätte ein Festival wohl kaum laufen können. Weil so viel passiert ist und so viele gute Bands gespielt haben, gibt es den Rock am Ring 2017 Nachbericht in drei Teilen.
Die Anreise | D9 – oder: Der Lost Place von Rock am Ring
Na gut, wir sind schon Donnerstag angereist, aber wollt ihr wirklich einen ganzen Artikel über die Anreise lesen? Dachte ich mir. Trotzdem hier die nicht ganz so kurze Kurzversion des obligatorischen RaR-Gemeckers zur Anreiseorganisation via Kraftfahrzeug.
Auf dem Lageplan sieht das ja alles ganz simpel aus: Grün für die Normalsterblichen, die sich nicht mehr als das Ticket leisten können, während mit ansteigender Preisstufe auch die Farbe knalliger wird. Vor Ort ist das alles aber gar nicht mal mehr so der Knaller. Die Ordner haben außerhalb der von ihnen zu bewachenden Flächen keinerlei Ahnung und die Beschilderung ist abenteuerlich – nennen wir es so. Am Donnerstag um 10 Uhr sind bereits die meisten Parkplätze belegt, die dazugehörigen Campingplätze hingegen hatten allerdings noch Luft. Dumm gelaufen.
Gelandet sind wir dann immerhin noch auf dem Parkplatz D11, der formidabel schnell fußläufig von D9 erreichbar ist. Jetzt wird’s aber richtig lustig.
Tage zuvor hatte Rock am Ring noch von verschärften Sicherheitskontrollen geredet – auch für die Park- und Campingplätze. Nur leider hatte da irgendjemand D11 und seinen Zugang zu D9 souverän vergessen. Bei der Auffahrt zum Parkplatz will niemand unsere Tickets sehen und beim Zugang zur Campingfläche ist einfach mal niemand da. Keine Ordner, keine (Sicherheits-)Kontrolle. Währenddessen werden am anderen Ende des Zeltplatzes sogar Nutella-Gläser aus dem Verkehr gezogen.
Ich lasse das jetzt mal unkommentiert stehen.
Abgesehen von zugebauten Rettungswegen sollte es aber der sauberste und gesittetste Campingplatz bleiben, der uns begegnet ist. Manchmal braucht es eben ein bisschen Anarchie.
Let’s Rock am Ring | Die Bands von Rock am Ring 2017, Tag 1
Starten wir mit dem ersten Act von Rock Am Ring 2017. Razz kommen aus meiner zweiten Heimat, dem Emsland, machen Indie-Rock, der sich hervorragend für die Crater Stage eignete. Einfach hinlegen, sich die Sonne auf die Bierwampe scheinen lassen und das Leben genießen.
So lange hat der Razz-Genuss allerdings nicht gedauert, wir hatten es eilig: Ab zu Sondaschule an die Volcano-Stage und damit zu meinem persönlichen RaR-Opener. Der Ska-Punk aus Oberhausen gehört für mich gefühlt zum Pflichtprogramm eines heißen, nachmittäglichen Festival-LineUps. Die Jungs aus Oberhausen kitzeln nämlich schon zu dieser frühen Stunde, in der eigentlich noch nicht viel los ist, ordentlich Stimmung aus dem Nürburgring. Amsterdam und Dumm aber glücklich gehen halt immer.
Vorher noch nie etwas von Skindred gehört, hat mir Kati, meine irrsinnig tolle Begleitung, die Band ans Herz gelegt. Was ein Feuerwerk – und das schon um 16 Uhr! Mit ihrer Mischung aus Reggea, HipHop und Metal, brillieren die Briten in fabulösem Crossover. Brillieren tut jedoch nicht nur ihre Musik, sondern auch das Outfit des Sängers Benji Webbe mit seiner opulenten, silbernen Sonnenbrille und Glitzerschal. Wer kann, der kann eben!
Das Publikum vor der Hauptbühne ist zwar noch nicht in Massen da, hat aber dafür schon ordentlich Stimmung parat. Daher ist es kein Wunder, dass Rock am Ring schon jetzt Wachs in den Händen Webbers ist. Wann immer er zum Bouncen, Jumpen oder Klatschen animiert, folgt der Großteil willig. Etwas anderes bleibt uns aber auch nicht übrig, denn wer ins Visier des britischen Frontmanns geraten ist, wird auch gern mal angepöbelt. Wie, Du klatscht nicht richtig? Dann wird eben mal der Song unterbrochen und derjenige wird zurecht gewiesen: „To the Beat, Bitch!“ Einer muss schließlich für Zucht und Ordnung sorgen!
Das gilt zumindest für die Volcano Stage. Nach Skindred geht es für uns aber weiter mit 2Cellos, auf der Crater Stage. Es gibt mit Sicherheit Spannenderes als zwei E-Cellos, denen man ein paar Rock-Nummern aufdrückt – dachte ich. Für das Festivalfeeling ist es aber genau das Richtige. Teil 2 der wir-liegen-wie-Seesterne-vor-der-Bühne-Attitüde ist somit erfolgreich eingeleitet. Smooth Criminal, Smells Like Teen Spirit, Highway To Hell und besonders The Trooper stand das Streicher-Gewand vorzüglich.
In solchen Momenten der eigenen, seligen Entspannung kommt man dann eventuell auf weniger clevere Ideen. Ausruhen macht hungrig. Also robbe ich zum nächsten Futterstand. Bis dato war ich dem Irrglauben erlegen, man könne bei gebratenen Nudeln nicht allzu viel falsch machen. Falsch gedacht. Es war ekelig. An Butter lutschen wäre befriedigender gewesen. Also merken: Pfui dem Asia-Menschen an der Crater Stage. Total Loser. So sad.
Von klassischen Streich-Instrumenten hin zu klassischem Boygroup-Hype um Simple Plan. Das Publikum vor der Crater Stage bestand hauptsächlich aus jungen Damen, die je nach Altersstufe an unterschiedlichen Stellen in Tränen ausbrachen. Diese Band hat früher reihenweise Köpfe verdreht und tut es heute immer noch. Verständlich, denn Sänger Pierre Bouvier hat auf der Bühne bis heute die perfekte Ausstrahlung: Die unwiderstehliche Mischung aus Prince Charming und Bad Boy.
Man kann von dem Hype letztlich halten, was man will, aber eins steht fest: Die Kanadier gehen mittlerweile auf die 20 Jahre Bandgeschichte zu und das merkt man ihnen einfach an. Eine Boyband, die immerhin noch kleine Kanten hat.
…und dann wird es spannend | Die Warnung davor & die objektive Gefährdungslage
Hinterher ist man immer schlauer, sagt man ja so schön.
Denn mittlerweile wissen wir, dass schon zum Ende von Simple Plan im Hintergrund die Diskussionen und Beratungen rund um den Terror-Verdacht in vollem Gange waren.
An dem Tag ist es trotzdem wenig verwunderlich, als ein Moderator die Kanadier auf der Bühne ablöste. Er stellt sich uns als Schutzengel vor, der wann immer man ihn auf der Volcano oder Crater Stage sehen würde, Sicherheitshinweise parat hätte. Nach dem wetterbedingten Abbruch im vergangenen Jahr scheint das eine gute Institution zu sein. So wird es uns auch präsentiert. Als Verhaltensregeln während eines wetterbedingten Notfalls. Dass die Aufforderung zum ruhigen und geordneten Verlassen des Geländes nur noch wenige Minuten bevorstand, ahnte vor der Bühne niemand. Es schien schließlich die Sonne.
Und mal ehrlich: Wer denkt an so einem geilen Tag an eine Terrorgefahr?
Wieder zurück an der Volcano Stage beginnen die Broilers. Keiner von uns beiden hatte die Düsseldorfer vorher live gesehen, wir hatten also keine Ahnung, was normal ist und wann nicht. Aber ein bisschen früh für eine Zugabe ist es dann doch als alle Bandmitglieder von der Bühne verschwinden.
Spätestens als Marek Lieberberg auf der Bühne auftaucht, ist klar: Meep. Da stimmt was nicht.
https://www.youtube.com/watch?v=MPVtcFae7Us
Es ist irgendwie unwirklich, wenn man mitten aus einem Konzert gerissen wird, weil die Polizei eine Veranstaltung abbricht, auf der man gerade noch ausgelassen und völlig ohne Sorgen den Moment genossen hat. Ich bin ein Mensch, der den Kopf völlig ausschaltet, wenn die Musik es zulässt. Aus diesem Stadium überhaupt erstmal rauszukommen und danach eine solche Ansage zu realisieren, die (verständlicherweise) äußerst vage formuliert wird, ist irritierend. Objektive Gefährdungslage. Schon am Fernseher wusste man schon nie, was das wirklich bedeutet.
Mit dieser Irritation waren wir nicht allein. In allen Gesichtern steht das gleiche geschrieben: Irritation, Verwunderung, ein bisschen Frust und dieser Hauch von Unwohlsein. Den niemand gern zulassen wollte, der aber einfach da war. Aber niemand auf dem ganzen Weg bis zum Zeltplatz (gestrandet auf D9 ist das ein verdammt weiter Weg), ist in Panik ausgebrochen, ist aggressiv geworden oder hat sich rassistisch geäußert. Niemand.
Stattdessen wurde es ruhig. Nicht still. Nur ruhig.
Zu tausenden sind wir die Start-/Ziel-Gerade entlanggelaufen, haben unterwegs Leuten Bescheid gegeben, die die Durchsagen nicht gehört hatten. Trotz der Situation sollten wir aus den gängigen Ausgängen strömen. Der Stau am Haupteingang war daher wenig überraschend. Wenn jetzt was hochginge, würde man mehr Leute treffen als es vor der Volcano Stage der Fall gewesen wäre. Aber solch einen Gedanken verdrängt man einfach. Was soll man auch tun?
Einige Besucher hatten da eine tolle Idee: Musik. Gemeinsam Singen. Das macht ein Festival aus.
„Eins kann uns keiner nehmen und das ist die pure Lust am Leben“ – der Song von Geier Sturzflug wurde zur inoffiziellen Hymne von Rock am Ring 2017. Immer mehr Menschen stimmten ein. Erst leise, dann immer lauter. Sie machten sich Luft, schüttelten die Anspannung ab, beschäftigten sich vielleicht auch einfach nur. Das Ergebnis war aber, dass die Stimmung kippte. Mir und vielen anderen ging es nur noch um: „Scheiß drauf! Dann feiern wir jetzt das Leben!“ Ich glaube fest daran, dass das das Beste war, was wir in diesem Moment hätten tun können. Das feiern, was andere uns nehmen wollen.
Ich bin immer noch zutiefst beeindruckt und gleichzeitig beruhigt, dass es Abertausende da draußen gibt, die auf der einen Seite so besonnen gehandelt haben und gleichzeitig nicht auf das rechte Gefasel eingestiegen sind, das plötzlich zu Hauf von Deutschlands Sofas ausgekotzt wurde. Ich möchte mich daher vor allen verneigen, die diese surreale Situation zu einem ehrfurchtsvollen Moment gemacht haben.
Besser als am Morgen danach kann ich es eh nicht formulieren, daher hier noch einmal meine Gedanken von Samstagmorgen:
Ich habe mich an diesem Abend noch lange auf sämtlichen Social Media Kanälen getummelt. Dabei habe ich mir immer wieder gewünscht, dass jemand diese armen Menschen, die sich von Angst und Hass nähren, endlich mal in den Arm nimmt.
Zum Bericht zu Tag 2 von Rock am Ring 2017.
Zum Bericht zu Tag 3 von Rock am Ring 2017.